Ellid und das Huhn
"Ich bin nur kurz weg!"
Nein, nein... Kein echtes Huhn.
Also schon. Aber es war ein Suppenhuhn. Vom Biobauern gekauft, zwölf Stunden von mir auf dem Herd mürbe geblubbert, es war riesig, fast vier Kilo schwer und wir hatten Weihnachten.
Das Huhn hatte ich für Rumi gekocht, sie war hoch trächtig mit ihrem ersten Wurf von Ellid, wir warteten auf die Welpen und in so einem Fall ist eine Hühnerbrühe einfach Pflicht.
Die Geburt der Welpen konnte jederzeit losgehen und obwohl ich meine Hündin seit Tagen nicht mehr eine Minute aus den Augen ließ, bin ich am zweiten Weihnachtstag abends einmal kurz zu meinen Eltern gefahren.
Gerrit und die Kinder saßen gemütlich auf dem Sofa und schauten Marvel-Filme und bekamen alle die strikte Anweisung, meine dicke Rumi (und auch alle anderen Hunde) gut zu bewachen, während ich weg war.
Machbar, im Grunde. Sollte man meinen...
Ich hatte mein Suppenhuhn zum Auskühlen vor die Küchentür gestellt. Es war so gross, dass es nicht auf einen Teller passte, sondern sollte auf einem Backblech kurz kalt werden, bevor ich es auseinanderzupfen wollte.
Gut... Man kann erahnen, was in dieser Geschichte passieren wird:
Ich kam nach nur 45 (!!) Minuten wieder nach Hause, alles war noch wie vorher, die Kinder schauten Film, Rumi schlief vorm Ofen.
Alles fast so friedlich, wie ich es in Erinnerung hatte.
Aber Ellid fehlte. Was anscheinend keinem aufgefallen war... Als ich meine Familie mit der Frage nach seinen Verschwinden konfrontierte, gab es irritierte Blicke, Gerrit war genervt, Jari kaute Chips.
Ich habe es mir erspart, jemanden zu nötigen, den Film zu unterbrechen und habe Ellid also gesucht und auch gefunden- er hatte sich die Terrassentür aufgemacht und war alleine im dunklen Garten.
Also wirlich ganz alleine, vollkommen alleine, aber zufrieden.
Denn das Huhn war weg.
Und ich meine damit nicht "angefressen" oder "zerkaut", sondern wirlich vollkommen spurlos verschwunden, das Backblech war so sauber wie frisch gekauft.
Es war nicht ein einziges Atom Suppenhuhn mehr da.
Auch mit Taschenlampen, in einer spontan von mir einberufenen Suchaktion war von dem Vogel nichts mehr zu finden.
Ich hatte die Hoffnung gehabt, Ellid hätte seine Beute irgendwo in den Büschen zerpflückt oder nur Teile gefressen, es vielleicht vergraben oder die Hälfte liegengelassen- dem war nicht so.
Dafür war Ellid so dick, dass er sich nicht mehr richtig bewegen konnte und sein Bauch war im Grunde genauso ausladend, wie der vom meiner schwangeren Rumi.
Tja, also was tut man in so einem Fall?
Natürlich erstmal beim Tierarzt seines Vertrauens anrufen und um Rat fragen. Und sich für die Störung entschuldigen, an Weihnachten, nach 20 Jahren Hundehaltung, mit einer so dämlichen Frage, wie der, was wir jetzt tun könnten.
Wirklich unangenehm.
"War das Huhn roh? Dann wäre es nicht ganz so schlimm..."
"Den ganzen Tag gekocht."
"Oh. Und hat er wirklich die Knochen mitgefressen?"
"Definitiv."
"Moment, ich frag nochmal kurz die Kollegin..."
Es wurde beschlossen, einfach abzuwarten. Zu hoffen, Ellid würde sich nicht übergeben oder heftigen Durchfall bekommen, da spröde Knochensplitter bei unkontrolliert schnellem Verlassen des Körpers schlimme Schäden anrichten können.
Gekochte Knochen sollte ein Hund deshalb niemals fressen, schon gar nicht von Hühnern, die brechen ganz besonders scharfkantig beim Zerkauen.
Sollte Ellid also anfangen zu kotzen, würden wir direkt in die Klinik fahren, aber bis dahin sollten wir einfach abwarten, dem Hund bisschen Sauerkraut geben, wilde Sprünge oder hektische Bewegungen vermeiden und ihn gut beobachten.
Ich habe jetzt noch ein Detail vergessen, was die Sache noch ein mini bisschen brisanter machte: Ellid hatte die ersten Jahren seines Lebens eine Geflügel-Allergie.
Er vertrug mittlerweile wieder Huhn im Futter, allerdings hätte ich damit gerechnet, dass eine solche Überdosis in seinem Fall zu heftigen Reaktionen führen würde.
Aber es passierte gar nichts.
Allerdings parkten wir ein ZWEITES Auto fahrbereit in Richtung Hoftor.
Das erste stand dort nämlich schon für Rumi bereit, falls es Komplikationen mit der Geburt geben würde. Wir planten also: falls sich beide Hunde gleichzeitig in Schwierigkeiten befinden würden, müsste Matilda mit mir und Rumi in die Klinik fahren und Gerrit und Jari würden bei Ellid bleiben, falls er auch zu einem Tierarzt gefahren werden sollte.
Na, wir hatten ja eh gerade Urlaub. Da ist so ein bisschen Drama ja nicht so schlimm.
Gerrit und ich haben also die restlichen Feiertage damit verbracht, nicht einen, sondern jetzt zwei schwarze, unförmig fette Hunde zu beobachten, beide furzend in unserem Schlafzimmer nächtigen zu lassen, beide wie ein rohes Ei zu behandeln und unter ständiger Beobachtung zu haben.
Den einen mit einem grossen Wurf Welpen im Bauch, den anderen mit dem Suppenhuhn intus.
Unsere Abendrunden mit den beiden werdenden Eltern vor uns herwackelnd, im Dunkeln, drehten sich nur um die Frage: "Hat Rumi Durchfall? Geht die Geburt los? Leuchte mal bei Ellid! Kackt er Knochen??"
Es ist aber gar nichts passiert. Von dem Huhn haben wir nie wieder ein einziges Stückchen zu sehen bekommen, Ellid hatte es nach ein paar Tagen verdaut, Rumi bekam ihre Welpen und beide Hunde waren an Sylvester wieder so schlank wie vor der Adventszeit.
Ich habe keine Hühnerbrühe mehr gekocht. Man kann sie auch fertig kaufen.
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